
Fortsetzung der Gedanken zum Theater in Zeiten von Corona von Dr. Brigitte Weinzierl
Ostersonntag 2020, abends, Leipzig, ich sitze am Küchentisch, vor mir mein smart phone.
Und wieder eine außergewöhnliche Erfahrung.
Der Theaterleiter und die –managerin sitzen dieses Mal in Würzburg im Theatersaal des tanzSpeicher, aber nicht wie gewohnt bei Einführungen zu Premieren auf der Bühne, wohin sie als Akteure gehören, sondern auf der Zuschauertribüne. Drei leere Stühle halten sie auf Abstand. Sie künden drei Tanzsolos an.

Es beginnt eine Reise ins private Umfeld der PerformerInnen. Es folgen unerwartete, intime Einblicke. Ich sehe Magali Sander Fett in ihrer Wohnung in Bremen, entdecke eine gelbe Blüte hinter den Badezimmerspiegel geklemmt, viele Topfpflanzen, ein kleines Bücherregal über dem Heizkörper, auf dem Boden im Wohnzimmer ein Quadrat mit Klebeband markiert, ihre Bühne. Auf dem Sofa sitzt eine junge Frau. Wer ist sie? Die Schwester? Die Tochter? Eine Mitbewohnerin? Eine Besucherin? Es zieht Nebel durch den Raum. Hat Magali Sander Fett eine Nebelmaschine zuhause?
Dann eine gut ausgestattete, beeindruckend aufgeräumte, rote Küche -wie aus dem Katalog- in Berlin. In einer WG? Thomas Rohe in Trainingsklamotten kommt herein, setzt eine kleine italienische Espressomaschine auf den Herd und beginnt zu tanzen. Wenn der Kaffee fertig ist, endet seine Performance.
Eine weitere Wohnung in Berlin, dieses Mal von Juliane Bauer. Alles verschwommen, unklar, wie im Zerrspiegel, nur einen Türrahmen erahnt man. Am Ende des Solos sieht man ein Glas Wasser und es materialisiert sich eine schöne, hohe Altbaukassettentüre mit antiken Beschlägen.
Und wo bin ich? Sitze ich in einer der Wohnungen in Berlin oder Bremen? Oder in Würzburg im Theater tanzSpeicher? Und wo da? Auf dem einzig legitimen Platz für das Publikum, auf der Zuschauertribüne?
Runter vom Sofa! – Weg vom Küchentisch!
Und dorthin will ich wieder. Runter vom Sofa, weg vom Küchentisch, heraus aus dem Eremitendasein. Ich will wieder ins Theater, Konzert, die Oper gehen. Ich will gemeinsam mit den Performern, den Akteuren, anderen ZuschauerInnen zur selben Zeit, am selben Ort, im selben Raum die gleiche Luft atmen und gemeinsam die Vorstellung erleben.
Theater ist ein lebendiges, komplexes System, für dessen Gelingen lebendige Gegenwart unabdingbar ist. Die Sehnsucht danach wächst von Tag zu Tag.